Votum im Stadtrat Bern zur Debatte aus aktuellem Anlass
Liebe Anwesende
Zuallererst, die Gewalt und die Gewaltbereitschaft einzelner Demonstrierender ist zutiefst zu verurteilen. Bewusst Menschenleben in Gefahr zu bringen ist nie gerechtfertigt. Aber auch die staatliche Gewalt ist zu verurteilen. Ich sehe die Aufgabe des Stadtrates hierin: Unsere Aufgabe ist es, den staatlichen Rahmen und das Behördenhandeln zu prüfen. Wir müssen fragen, ob die Stadt ausreichend vorbereitet war und ob die Rahmenbedingungen solche Eskalationen begünstigen oder verhindern. Das ist für staatliche Institutionen aber besonders schwierig, weil sie sich dadurch gewissermassen entblössen müssten.
Denn wie Walter Benjamin vor über 100 Jahren in Zur Kritik der Gewalt schrieb, ist die Polizei nicht nur eine rechtserhaltende, sondern in weiten Grenzen auch eine rechtsetzende Gewalt, denn sie entscheidet, was als Gefahr gilt und wie darauf zu reagieren ist und kann so das Recht «in weiten Grenzen selbst setzen».
Im Moment der Entscheidung, was eine Gefahr ist und mit welcher Härte eingegriffen wird, bewegt sich die Polizei an der Schwelle zwischen Recht und Unrecht und riskiert, zur Aufrechterhaltung der Ordnung das Recht paradoxerweise zu brechen. Genau so hat sie es auch am vergangenen Samstag getan. Und was der Gemeinderat bis anhin geleistet hat, ist es, die polizeiliche Gewaltausübung zu decken und die rechtssetzende Macht der Polizei nachträglich zu legitimieren. Hier müssen wir ansetzen – denn das ist es, worüber wir als Parlamentarier*innen diskutieren sollten:
War der Polizeieinsatz verhältnismässig? Laut den Demokratischen Jurist*innen Bern wurde vielerorts sofort zu Gummischrot gegriffen, noch bevor Wasserwerfer eingesetzt wurden. Diese wiederum wurden breitflächig gegen offensichtlich friedliche und unbeteiligte Personen eingesetzt.
Wurde rechtmässig gehandelt? Amnesty International spricht von beunruhigenden Berichten: Gummigeschosse aus kurzer Distanz, auf Kopfhöhe, ohne Vorwarnung – auch gegen Personen, von denen keinerlei Gewalt ausging. Solche Einsätze widersprechen geltenden Richtlinien für sogenannte nicht-letale Waffen. Amnesty untersucht aktuell über 200 Meldungen möglicher Menschenrechtsverletzungen.
Gibt es systematische Probleme? Beobachtungen deuten auf chaotische Kommunikation, fehlgeschlagene Deeskalation und eine mangelnde Trennung von friedlichen und gewaltbereiten Demonstrierenden hin. Aber auch komplett unbeteiligte: Ich selbst kenne mehrere Unbeteiligte, wie mein Onkel der aus Kalabrien zu Besuch war, die in die Schusslinie gerieten.
Unter den tausenden von Demonstrierenden befanden sich viele Familien mit Kindern, Rentner*innen, Jugendliche. Die grosse Mehrheit verhielt sich friedlich. Erst als der Demonstrationszug am Bundesplatz gestoppt wurde, kippte die Stimmung. Gewaltbereite eskalierten die Situation, doch auch der deutlich grössere Teil friedlich Teilnehmenden wurde bekam ab da Tränengas ab. Als dieser Teil versuchte, sich in Richtung Bahnhof zurückzuziehen, gerieten sie erneut zwischen die Fronten.
Die Stadtpräsidentin sagte: „Wer mit Stangen auf Polizisten einschlägt, nimmt diese nicht mehr als Menschen wahr.“ Das ist die eine Seite, und diese Gewalt ist auch klar zu verurteilen. Die andere Seite, die weder der Gemeinderat noch die Stadtpräsidentin – wohl aus strukturellen Gründen – sehen, lautet: Wenn die Polizei mit Gummischrot und mit Reizgas versetzten Wasserwerfen am Bahnhof um sich schiesst und Verletzungen von unbeteiligten Passant*innen und friedlichen Demonstrierenden in Kauf nimmt, nimmt sie diese ebenso nicht als Menschen war. Sondern als staatliche Objekte. Diese unschuldigen von polizeilicher Gewalt betroffenen Menschen zu verteidigen scheint weder ein Grossteil der Medien, noch der Gemeinderat übers Herz zu bringen. Das gilt es hier und heute zu sagen. Wer nur ein paar gewaltbereite Menschen verurteilen kann, ohne die eigene Verantwortung und staatliche Gewalt im Auge zu behalten ist auf dem selbstkritischen Auge blind. Diese Perspektive aber fehlt in der Kommunikation des Gemeinderats bisher vollkommen.
Bis heute hat der Gemeinderat laut Medienmitteilung der Polizei und sich selbst auf die Schulter geklopft und den ominösen schwarzen Block verurteilt. Von Beobachtungen von Amnesty oder DJB keine Spur. Das zeigt, wie schwer es dem Staat fällt, seine eigene Rolle kritisch zu hinterfragen. Oder, zugespitzt gesagt: Die Kritik an der polizeilichen Gewalt scheitert, weil der Staat in ihr nur sich selbst erkennen würde. So sagt der Gemeinderat in seiner Medienmitteilung ja auch, dass er den Polizeieinsatz mittrug. Die rücksichtlose Gewalt richtete sich nicht nur gegen Einsatzkräfte, schreibt der GR in der Mitteilung. Das Stimmt. Denn die Einsatzkräfte setzten ebenfalls rücksichtslose Gewalt ein. Darüber schweigt die Medienmitteilung aber.
Lassen wir uns also nicht von der Empörung über eine kleine Gruppe von Randalierenden ablenken. Unsere Aufgabe ist es, die demokratische Kontrolle staatlichen Handelns ernst zu nehmen – im Interesse aller Menschen in dieser Stadt.