Motion Zora Schneider (PdA), Angela Falk (AL), Tabea Rai (AL), Patrizia Mordini (SP), Mohamed Abdirahim (JUSO):
Stadtratsitzung Bern vom 28. Februar 2019
Der rechtliche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen ist in der Schweiz eher ein neues Phänomen. Erst im revidierten Sexualstrafrecht von 1992 fiel die Nötigung zum Beischlaf in der Ehe unter den Tatbestand der Vergewaltigung, konnte jedoch nur auf Antrag innerhalb von sechs Monaten verfolgt werden. Erst seit 2003 ist die «häusliche Gewalt» ein Offizialdelikt geworden. Dies könnte einer der Gründe sein, wieso der weibliche Genitalbereich weiterhin stark tabuisiert ist und sich viele Frauen auch heute noch schwertun, einen geeigneten Namen dafür zu finden oder überhaupt über ihre eigene biologische Ausstattung Bescheid zu wissen. Wenigstens das letztere wäre aber eine der Grundvoraussetzungen für die sexuelle Selbstbestimmung. An den Namen für die weiblichen Geschlechtsteile lässt sich klar ersehen, dass wir es mit einem Tabu zu tun haben: Man nennt sie Scham. Manche Frauen reden sogar vom «After vorne». Auch die Unterscheidung zwischen der Vulva, die aus dem Venushügel, den Schamlippen und der Klitoris besteht und der Vagina, mit der die inneren weiblichen Geschlechtsorgane gemeint sind, ist wenig bekannt und die Begriffe werden häufig falsch verwendet. Dazu kommt, dass viele Frauen ihre Vulva nicht schön oder sogar dreckig finden.
Erst kürzlich ist ein neues Lehrmittel erschienen, das der sexuellen Aufklärung an Schulen dienen soll. Leider fehlte darin das wichtigste weibliche Lustorgan, die Klitoris.1 Auch das bestätigt den Befund, dass der weibliche Genitalbereich weiterhin stark tabuisiert ist und eine öffentliche Darstellung vermieden wird. Damit geht aber für Frauen das Risiko einher, dass sie ihnen die Funktionen des eigenen Körpers unbekannt bleiben. Dies verhindert das Bewusstwerden des eigenen Körpers als Ganzheit, als der er eigentlich verstanden werden müsste. Diese Tabuisierung und die damit einhergehende Verletzung der Würde und Komplettheit des weiblichen Körpers ist ein systematisches und weltweites Phänomen.
In den letzten Jahren sind dazu mehrere Filme zum Thema weibliche Sexualität entstanden. Sie drehten sich einerseits darum zu zeigen, welcher (häufig sexuellen) Gewalt Frauen nach wie vorausgesetzt sind und sie betonen andererseits die Schönheit und Diversität des weiblichen Geschlechts. Die Wichtigkeit dieser Thematik und der Zusammenhang mit männlicher Macht zeigte sich insbesondere, als der Film «Die göttliche Ordnung» in Saudi-Arabien gezeigt wurde. Dort wurde nur eine einzige Szene zensiert: Diejenige, in der die Frauen im Film ihren Geschlechtsteilen Namen geben und sie mit dem Spiegel betrachten.
Die Anzahl der operativen Eingriffe an der Vagina explodierte in den letzten Jahren.2 Insbesondere Verkleinerungen der inneren Schamlippen nehmen zu. Daneben gibt es aber auch Straffungen, Aufspritzen des G-Punktes, operative Vaginalverengungen, usw. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper, insbesondere mit dem eigenen Intimbereich scheint sehr schlecht zu sein. Die Vulva soll möglichst kindlich aussehen. Das Ziel ist die Selbstoptimierung und die kapitalistische Leistungslogik lässt sich auch in diesem Fall im sexuellen Bereich erkennen. Das ist nicht verwunderlich, weil in der Mainstreampornographie vor allem Bilder von operierten Vulven gezeigt werden. Die Nebenwirkungen solcher Operationen sind wenig untersucht. Die deutsche Gesellschaft für plastische Chirurgie nennt folgende potentielle Auswirkungen: «Es kann zu Narbenbildungen kommen, es können Verziehungen im Bereich der Harnröhre entstehen, es kann auch zu Schmerzen oder zu Gefühlsverlust im Intimbereich kommen.» Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Auswirkungen solcher Operationen noch viel zu wenig untersucht sind und grosse Risiken bergen. Auch heute noch ist der ausgesprochene oder unausgesprochene Anspruch von Männern auf Sex mit Frauen weit verbreitet. Einige meinen sogar, Sexualität mit einer anderen Person sei ihr Recht. Das zeigt sich u.a. an den hohen Zahlen beim Konsum von sexuellen Dienstleistungen und Pornographie. Ausserdem sind im Internet frauenhassende Gruppen entstanden, z.B. auf der Webseite 4chan oder einer Webcommunity namens Incel, die ihr Recht auf Sex mit allen Mitteln geltend machen wollen. Unschwer lässt sich ein Zusammenhang zwischen dieser verbreiteten Gewalt und der Tabuisierung des weiblichen Geschlechts herstellen.
Um sich der eigenen Komplettheit und Ganzheit bewusst zu werden und die eigene sexuelle Selbstbestimmung auch umsetzen zu können, ist es notwendig, auch für den Intimbereich die richtigen Worte zu finden und diese auszusprechen. Es gibt viele Künstlerinnen, die sich des Themas angenommen haben. Die künstlerischen Auseinandersetzungen bieten eine gute Grundlage, damit Männer wie Frauen einen Anhaltspunkt hin zur grösseren sexuellen Freiheit finden können.
Die Vulva ist lange genug zensiert worden. Deshalb möchte ich den Gemeinderat höflich auffordern, folgende Anliegen umzusetzen:
- Es sollen Vulva-Tage in Bern durchgeführt werden, die sich mit den oben beschriebenen und weiteren Problematiken beschäftigen und mit öffentlichen Veranstaltungen, Podien, Lesungen, Vorträgen, Musik, Theater und Kunst im öffentlichen Raum usw. zur Enttabuisierung des weiblichen Geschlechts und zu mehr sexueller Selbstbestimmung beitragen.
- Insbesondere sollen auch künstlerische Ausstellungen von Vulvas im öffentlichen Raum durchgeführt werden.
Bern, 28. Februar 2019
Erstunterzeichnende: Zora Schneider, Tabea Rai, Angela Falk, Patrizia Mordini, Mohamed Abdirahim
- http://www.taz.de/!5550546/. Zugriff: 26.2.2019.
- https://www.aerzteblatt.de/archiv/152997/Intimchirurgie-Operieren-ohne-Tabu. Zugriff: 15.01.2019. 2011 fanden in der Bundesrepublik etwa 5440 Schamlippenkorrekturen statt. Außerdem gab es 350 operative Eingriffe an der Vagina, wie etwa Straffungen.