Schaffen wir das? Solidarität für und mit allen geflüchteten Menschen und zwar jetzt!

Stadtrat Bern
Dringliche Motion Fraktion AL/PdA (Matteo Micieli, PdA/ Tabea Rai, AL)

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat in der Schweiz zu einer Welle der Solidarität geführt. Alle scheinen an einem Strick zu ziehen, um die Menschen aus der Ukraine, die hier bei uns Schutz suchen, unterzubringen, sie so gut es geht an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Mit dem Schutzstatus S können diese direkt ab der Ankunft bei Gastfamilien wohnen, in der Kantonszuteilung zeigt sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) plötzlich auch sehr flexibel. Und das ist gut so, das ist menschlich, richtig und müsste für alle gelten.

Dem ist jedoch leider nicht so. Die Situation für viele geflüchtete Menschen in der Schweiz ist untragbar. Sie kommen in die Schweiz, in der Hoffnung, vor Krieg, Folter, Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung geschützt zu werden. Leider wird den wenigsten dieser Menschen so menschlich begegnet, wie dies bei den Geflüchteten aus der Ukraine der Fall ist.

Die private Unterbringung von Geflüchteten ab ihrer Ankunft in der Schweiz ist praktisch unmöglich und wird auch nicht von den Bundesbehörden gefördert. Für Menschen, die in der Schweiz im „regulären Asylverfahren“ stehen, wird bei der Kantonszuteilung zudem nur die Kernfamilie berücksichtigt. Damit sind Ehepartner*innen und deren minderjährigen Kinder gemeint. Geschwister, Tanten, Onkel, Bekannte oder Freund*innen werden nicht berücksichtigt wenn es darum geht, diese Geflüchteten in den Kantonen unterzubringen. Dabei fördert ein soziales Netz nicht nur die Integration, sondern wirkt sich positiv auf die Psyche und das Wohlergehen von Geflüchteten aus. Das sind nur einige Beispiele, um zu zeigen, wie der Umgang zwischen geflüchteten aus der Ukraine und solchen aus anderen Regionen der Welt sich unterscheidet. Diese eklatante Ungleichbehandlung ist weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt. Die neuen Möglichkeiten, die sich nun plötzlich ergeben haben, die vom SEM neu gefundene Flexibilität darf nicht den Ukrainer*innen vorbehalten sein. Das Wohlergehen aller Geflüchteten ist wichtig und muss im Zentrum der Asylpolitik stehen eines Landes, welches sich gerne an seine „humanistische Tradition“ zurückerinnert. So müssen diese neuen Möglichkeiten und Forderungen etwa nach einem gratis GA für ukrainische Geflüchtete für alle Geflüchteten Menschen gelten!

Denn die Realität sieht in der Schweiz für die meisten Geflüchteten anders aus. Der Kanton Bern nimmt dabei eine besonders unrühmliche Stellung ein. So sieht die Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) in den Rückkehrzentren des Kantons die UNO-Kinderrechtskonvention verletzt.1 Weiter wird auch die Nothilfe von 8 Franken pro Tag für eine Einzelperson als zu tief kritisiert. Familien, welche ein Wiedererwägungsgesuch eingereicht haben, müssen in Rückkehrzentren unter unmenschlichen Umständen darauf hoffen, dass sie in der Schweiz bleiben können. Dass die Situation insbesondere für Kinder und Jugendliche nicht tragbar ist, hat die NKVF in einem ausführlichen Bericht im Februar 2022 festgestellt:

„Die ungenügende Infrastruktur, die engen Wohnverhältnisse sowie die fehlenden Rückzugs- und Spielmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche tragen dazu bei, dass die Situation in den RZB in Aarwangen und Biel-Bözingen nach Ansicht der Kommission für Familien mit Kindern nicht menschenwürdig ist. Die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in den RZB Aarwangen und RZB Biel-Bözingen sind nicht vereinbar mit den in Art. 27 und Art. 31 der UNO-Kinderrechtskonvention verankerten Rechten auf angemessene Lebensbedingungen, auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung.“2

Gleichzeitig werden viele Menschen, auch im Kanton Bern, auch hier in der Stadt Bern illegalisiert und so an den Rand der Gesellschaft, in die Unsichtbarkeit getrieben. Für Menschen ohne Papiere werden für uns alltägliche Handlungen verunmöglicht, die Teilhabe an der Gesellschaft so verwehrt. Ein Handyabo lösen, eine Geburtsurkunde beantragen, einen Kitaplatz finden, sich gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz wehren oder etwa einen Diebstahl melden: all das ist für solche Menschen mit enormen Hürden verbunden, wenn es überhaupt möglich ist. Medizinische Unterversorgung, verunmöglichte Teilhabe, Rayonverbote, Beschäftigungsverbote und ein Leben in extremer Armut sind Verhältnisse, die kein Mensch ertragen müssen sollte. Etliche Male wurden auf diese Missstände aufmerksam gemacht. Unter anderem in einem offenen Brief, der von zahlreichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachpersonen unterzeichnet wurde.3 4

Dass das ziemlich einfach – zumindest ein bisschen – besser gehen würde macht der Kanton Basel-Stadt und der Kanton Schaffhausen vor. So beträgt die Nothilfe dort 12 Franken, was immer noch sehr wenig aber besser ist. Auch sorgen sich beide Kantone besser um menschenwürdige Unterbringungen: Im Kanton Basel-Stadt gibt es keine Rückkehrzentren, wobei insbesondere vulnerable Personen in Wohnungen untergebracht werden. In Schaffhausen werden gar grundsätzlich alle abgewiesenen Asylsuchenden in Wohnungen untergebracht.5

Während also die Solidarität mit den ukrainischen Mitmenschen und Miteuropäerinnen gross ist – was auch gut und dringend notwendig ist – wurde spätestens ab dem Jahr 2000 die Asylpolitik für Geflüchtete aus aller Welt in der Schweiz immer mehr verschärft. Die Sozialhilfe für abgewiesene Asylsuchende wurde gestrichen, was für diese ein Leben im Nothilferegime (in Bern acht Franken pro Tag) bedeutet. Das Botschaftsasyl wurde abgeschafft, was die Menschen auf lebensgefährliche Fluchtwege zwingt und nach einem politischen Entscheid änderte das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen 2016 die Praxis gegenüber eritreischen Asylsuchenden. In Eritrea gibt es den Nationaldienst welcher für alle Pflicht ist. Es ist weitestgehend bekannt, dass dieser unbefristeter Zwangsarbeit gleichkommt, dass Folter und Willkür an der Tagesordnung sind.6 7

Auch mit einem F-Ausweis ist das Leben in der Schweiz prekär. Die vorläufig aufgenommenen Geflüchteten müssen sehr schnell Sozialhilfeunabhängig sein. Der F-Ausweis ist eine Anwesenheitsregelung und wird so der Realität nicht gerecht, da fast die Hälfte der vorläufig Aufgenommenen bereits über sieben Jahre in der Schweiz leben. Immer mit dem Wissen und der Angst, dass ihnen dieser Titel jederzeit entzogen werden könnte. Auch die Mobilität für Menschen mit F-Ausweis ist enorm eingeschränkt. Grundsätzlich müssen sie im vom Staatssekretariat für Migration zugewiesenen Kanton bleiben, auch wenn sie etwa Geschwister in anderen Kantonen haben. Das Recht auf Familie wird also nur beschränkt gewährt. Arbeiten ist für Menschen mit einem F-Ausweis zwar grundsätzlich erlaubt, faktisch jedoch mit enormen Hürden verbunden: Arbeitgeber*innen müssen ein Gesuch stellen, um solche Menschen bei ihnen arbeiten zu lassen, zudem hält der vermeintlich nur vorläufige Aufenthalt potenzielle Arbeitgeber davor ab, vorläufig aufgenommene Menschen einzustellen. Die Arbeitsmarktintegration wird ihnen so um ein vielfaches erschwert. So auch der Familiennachzug, denn wer seine*n Ehepartner*in oder die Kinder im Kriegsland zurücklassen musste, muss Sozialhilfeunabhängig sein, mindestens seit drei Jahren vorläufig aufgenommen sein und eine bedarfsgerechte Wohnung haben. Mit den erschwerten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt ist das für viele geflüchtete Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Fristen wie die, dass der Nachzug von Kindern über zwölf Jahren innert zwölf Monaten eingereicht werden müssen, wie die oben erwähnten sonstigen Kriterien für den Familiennachzug machen offensichtlich, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht garantiert wird. Auch das Reisen in andere Länder ist für Menschen mit einem F-Ausweis sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Kriegs- und Gewaltvertriebene, was Menschen mit F-Ausweis alle sind, erhalten nur in der Schweiz und in Liechtenstein keinen Schutzstatus. In allen anderen EU-Ländern erhalten diese einen subsidiären Schutzstatus, was in vielen Bereichen die gleichen Rechte und Leistungen wie Flüchtlingen gewährt. Die Schweiz hat also immensen Nachholbedarf.8 9 10

Immer wieder werden fremdenfeindliche und schädliche Narrative vom „gefährlichen, falschen“ Flüchtling öffentlich verbreitet. Auch von namhaften Politikern. Diese politische und rassistisch motivierte Instrumentalisierung der Angst vor dem Fremden wird auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine offen zelebriert. Es wird vor Drittstaatenangehörigen gewarnt, welche über die Ukraine in die Schweiz gelangen könnten. Es sind aber nicht nur Vertreter*innen aus der Politik, welche mit solchen Aussagen Schlagzeilen machen. Auch die Medien selber positionieren sich äusserst bedenklich. So war in der NZZ vom 01. März 2022 von „echten Flüchtlingen“ die Rede. Während die Ukrainerinnen mit ihren Kindern wieder zurück in die Ukraine wollen, seien afghanische oder syrische Geflüchtete gekommen, um zu bleiben. So das Narrativ dieser Zeitung, gewisser Kreise, so die Erklärung, weshalb man so grosszügig mit den Geflüchteten aus der Ukraine umgeht. Dieses Narrativ wird, wie oben schon erwähnt, von Politikern getragen, welche etwa für den Migrationsdienst zuständig sind.

Wir sind alle in der Pflicht, jetzt Verantwortung zu übernehmen! Wir als Mitglieder des Stadtrates wie auch der Gemeinderat. Unsere Aufgabe ist es, öffentlich Stellung zu nehmen, mehr dafür zu machen, dass diese Menschen, die durch unsere Politik an den Rand der Gesellschaft getrieben werden, nicht vergessen gehen. Unsere Aufgabe ist es, für die Rechte aller Menschen einzustehen. Insbesondere für die Rechte von Menschen, deren mittel massiv eingeschränkt sind, selbst für ihre Rechte zu kämpfen. Das bedeutet Öffentlichkeitsarbeit, Aufklärung, das bedeutet aber auch politische Arbeit. Damit ist aber nicht gemeint, in einer Medienmitteilung anzukündigen, auf den Versand von Weihnachtskarten zu verzichten, um das gesparte Geld an UNICEF zu spenden.

Das bedeutet sich öffentlich und politisch dafür einzusetzen, dass die Politik von Kanton und Bund sich ändert. Und zwar jetzt!

Deshalb fordern wir den Gemeinderat dazu auf:

  1. Die Solidarität mit der die ukrainischen Geflüchteten begegnet werden, muss auch für Geflüchtete anderer Regionen in der Welt gelten. Der Gemeinderat nimmt öffentlich Stellung zu der Situation in Ländern, aus denen viele Geflüchtete den Weg in die Schweiz suchen und finden und solidarisiert sich mit den Leidtragenden, wie das mit den Geflüchteten aus der Ukraine geschehen ist.11
  2. Der Gemeinderat setzt sich öffentlich und vor allem auch beim Bund und Kanton Bern dafür ein, dass sich die Zustände für alle geflüchteten Menschen in der Schweiz bessern. So setzt er sich auch dafür ein, dass der F-Status verbessert wird.
  3. Der Gemeinderat muss sich klar und öffentlich gegen fremdenfeindliche Stimmungsmache aussprechen, auch und insbesondere wenn diese aus der Politik selbst kommt.
  4. Damit Vorurteile abgebaut werden können, setzt sich der Gemeinderat öffentlich und politisch dafür ein, dass geflüchtete Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen können und nicht, wie das bis anhin praktiziert wird, schon alleine durch den Ort, an dem sie leben müssen, marginalisiert werden
  5. Der Gemeinderat setzt sich beim Kanton dafür ein, die Nothilfe auf mindestens 12 CHF anzusetzen, wie das der Kanton Basel-Stadt vormacht.
  6. Der Gemeinderat setzt sich beim Kanton dafür ein, dass Rückkehrzentren abgeschafft werden und insbesondere für vulnerable Geflüchtete, Familien und unbegleitete Minderjährige Wohnungsbedingungen geschaffen werden, die menschenwürdig sind.
  7. Der Gemeinderat setzt sich beim Kanton dafür ein, dass eine unabhängige Ombudsstelle geschaffen wird, bei der sich Asylsuchende, abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers und anderswie illegalisierte Menschen melden können und anonym Beschwerden einreichen können.
  8. Der Gemeinderat richtet in Bern eine unabhängige Ombudsstelle ein, bei der sich Asylsuchende, abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers und anderswie illegalisierte Menschen melden können und anonym Beschwerden einreichen können.

Begründung der Dringlichkeit:
Diese Motion sorgt sich um die Rechte marginalisierter Menschen und fordert, deren Lebensumstände zu verbessern. Eine Begründung anbringen zu müssen, weshalb die Rechte geflüchteter Menschen wichtig sind und ein solches Anliegen dringlich sein soll, wäre Teil des Problems. Die Rechte unterdrückter Menschen oder der Menschen, die keine Stimme haben sind das politischste Anliegen überhaupt und somit implizit dringlich.

1 https://www.nkvf.admin.ch/nkvf/de/home/publikationen/mm.msg-id-87123.html
2 Ebd.
3 https://www.ncbi.ch/de/offener-brief-fuer-eine-humane-behandlung-von-abgewiesenen-asylsuchenden/
4 https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/abgewiesene-asylsuchende-das-nothilfesystem-macht-krank-mediziner-wenden-sich-in-offenem-brief-an-die-politik-ld.2254414
5 https://www.srf.ch/news/schweiz/kritik-am-berner-system-rueckkehrzentren-wie-streng-ist-bern-im-vergleich-mit-anderen
6 https://www.amnesty.ch/de/laender/afrika/eritrea/dok/2015/bericht-unbefristeter-nationaldienst-fluechtlinge-brauchen-schutz
7 https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Afrika/Eritrea/170630-eri-nationaldienst-de.pdf
8 https://www.fluechtlingshilfe.ch/themen/asyl-in-der-schweiz/aufenthaltsstatus/die-vorlaeufige-aufnahme
9 https://www.skmr.ch/de/themenbereiche/migration/artikel/vorlaeufige-aufnahme.html
10 https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/migration-asyl/reiseverbot-f-bewilligung
11 https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/solidaritaet-mit-der-ukraine-und-der-hauptstadt-kyiv

Eingereicht am 31.03.2022 in Bern