Auf die Finger schauen, auf die Pfoten hauen!

Unter der Bedingung von Krise und Notrecht kann die Versuchung für Exekutiven aller Ebenen verlockend sein, demokratische Prozeduren zu verschlanken und die politische Willensbildung zu kanalisieren. Deshalb muss die demokratische Kontrolle von unten auch schon ganz unten beginnen: in den Gemeinden.



In Biel und Nidau, den beiden Städten am unteren Ende des Bielersees, befinden sich zwei mehr als fragwürdige Bauvorhaben in einer heissen Phase: Agglolac und Westast. Während das Autobahnprojekt Westast in einem «Dialogprozess» perspektivisch auf einen faulen Kompromiss zu manövriert wird (Fortsetzung folgt!), könnten sich bei Agglolac – dem luxuriösen Überbauungsprojekt für bisher brach liegende und damit unverwertete Bereiche des Bielersee-Strands durch den auch in Zürich bestens bekannten Immobilienkonzern «Mobimo» – die Dinge sogar überstürzen. Auch wenn aktuell daran gezweifelt werden muss, dass die Abstimmungsbotschaft für die Volksabstimmung vom 28. Juni 2020 vorgängig im Stadtrat (Legislative) parlamentarisch sauber verhandelt werden kann, dürfen wir auch den schlimmsten Fall nicht ausschliessen: dass unter Rückgriff auf Notrecht die parlamentarische Debatte eingeschränkt und der öffentliche Abstimmungskampf zur Farce wird. In diesem Fall würden sich nur noch die finanzkräftigen und polit-ökonomisch bestens vernetzten Interessen mit «kontaktunabhängiger» Medienpropaganda einbringen und durchsetzen können. Dem rotgrün dominierten Bieler Gemeinderat (Exekutive) kann leider in diesem Fall nicht über den Weg getraut werden. Bisher hat die Bieler Regierung Notrecht zwar erst zum politisch unbestrittenen Erwerb einer Liegenschaft zur Sicherstellung des Schulraumbedarfs eingesetzt. Zum Abstimmungstermin vom 28. Juni herrscht aber Schweigen. Um demokratiepolitischem Missbrauch der aktuellen Situation zuvorzukommen, muss inner- und erst recht ausserparlamentarisch gelten: Dem Gemeinderat auf die Finger schauen!

Gentrifizierungs-Politik
SP und Grüne haben Westast und Agglolac lange Zeit mehr oder weniger wohlwollend verschlafen und dann auf öffentlichen Druck hin wiederum mehr oder weniger überzeugend ihre Gemeinderatsmitglieder aus der Schusslinie zu bringen versucht. Glaubwürdig wäre anders. In der SP ist das wirtschaftsgeile Virus vom ehemaligen Stadtpräsidenten und heutigen Berner Ständerat Hans Stöckli widerstandslos auf seinen Nachfolger übergesprungen, der seinerseits auch die Jungmannschaft der Juso im Rat ganz gut an der Leine zu halten versteht. Bei den Grünen haben sich neben verlässlichen Genoss*innen – sorry: opportunistische Karrierist*innen breit gemacht und auch Profilneurotiker wie der mittlerweile politisch unberechenbare Architekturkritiker Benedikt Loderer, der für den aktuellen Kompromiss-/Kapitulationskurs des Vereins westastsonicht.ch mitverantwortlich ist und die Gegner*innen von Agglolac in der Gratiszeitung Biel/Bienne schlicht als nostalgische Dörfler diffamiert. Woher die späte Begeisterung für die bei diesem verdienstvollen «Stadtwanderer» kommen mag, bleibt schleierhaft.


Projekte auf Eis legen
Unter diesen politischen Umständen, die gekennzeichnet sind von einem zähen politisch-wirtschaftlichen Filz weit hinein ins rotgrüne Spektrum, ist es umso wichtiger, dass sich Menschen jenseits parteipolitischer Kalkulation im Widerstand nicht nur gegen das Gentrifizierungs-Monster Agglolac, sondern auch gegen weitere Formen der Zerstörung von Gesellschaft und Umwelt finden, um sich gemeinsam dem weiten Feld an Handlungsformen jenseits parlamentarisch-politischer Logik zu widmen. Deshalb wird es auch im Hinblick auf die Bieler Stadt- und Gemeinderatswahlen vom nächsten September nicht genügen, den Parteien bloss auf die Lippen mit ihren hehren Versprechen zu starren – es braucht den Tatbeweis. Die Erfahrung lehrt, dass es dazu keine Alternative gibt. In der konkreten Situation bedeutet das zu fordern, dass alle politischen Gremien und Instanzen die Agenda zu Westast und Agglolac auf Eis legen. Für Krisengewinnler ist kein Platz!

Kurz vor Ostern gaben die Stadtpräsidentin von Nidau und der Stadtpräsident von Biel/Bienne bekannt, die Volksabstimmung über Agglolac würde verschoben. Eine kleine Freude darf schon mal herrschen. Der nächste und grosse Schritt steht noch bevor: Den Mobimo-Luxusdampfer endgültig stranden lassen!

Rolf Zbinden, Biel/Bienne
erschienen im vorwärts