Stadtratssitzung Bern 15.08.2019
Rede Zora Schneider (PdA)
Liebe Anwesende
Wie ihr seht, habe ich einen Antrag auf einkommensabhängige Sitzungsentschädigungen eingereicht und möchte diesen jetzt begründen.
Die Arbeit im Stadtrat ist sehr arbeitsintensiv. Wir als Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker müssen bei der Ausarbeitung unserer Ideen viel recherchieren und uns im besten Fall häufig mit verschiedenen Interessengruppen austauschen. Dass wir das machen und nebenher noch einer Lohnarbeit nachgehen, zeugt von unserem Idealismus und unserem Willen, unsere Ideen zur Verbesserung der Gesellschaft umzusetzen. Dabei kommen nicht nur unsere politischen Ideen zum tragen, sondern wir werden auch beeinflusst durch unsere Stellung in der Gesellschaft. Wie wohl oder unwohl ist es uns angesichts unserer Lebenslage, die durch die politischen Bedingungen beeinflusst ist. Welche Wohnung können wir uns leisten und wie sehr können wir es uns leisten, uns mit unserem Job zu identifizieren? Das alles ist politisch – das Sein bestimmt das Bewusstsein – und das bestimmt auch unsere politischen Ideen.
Wenn ich mich jetzt hier im Stadtrat umschaue, dann sehe ich viele Privilegierte. Es gibt hier keine Verkäuferinnen, keine Krankenpfleger und keine Kita-Mitarbeitende. Es gibt auch sehr wenige Handwerker.
Das heisst, dass der Stadtrat nicht ein Abbild aller gesellschaftlichen Schichten ist und das ist ein Problem für die Demokratie. Für mich stellt sich also die Frage, warum Menschen, die unter 4000 Franken verdienen, hier nicht vertreten sind. Und ich kann euch aus eigener Erfahrung sagen, dass es aus zeitlichen, finanziellen und strukturellen Gründen schwierig ist, Verkäuferin zu sein und gleichzeitig im Stadtrat. Erstens ist es bei Bestehen einer stark ausgeprägten Hierarchie im Job schwierig, dem Chef zu sagen, dass man eine politische Meinung hat, zweitens nehmen wahrscheinlich nur sehr wenige Arbeitgeber bei der Erstellung der Arbeitspläne Rücksicht darauf, ob man eine Sitzung habe oder nicht. Und drittens kann man es sich nur einrichten an allen Sitzungen teilzunehmen und die ganze Arbeit zu erledigen, wenn man entweder Gleitzeiten hat oder Teilzeit arbeitet.
Das ist der erste Grund, warum es sinnvoll ist, einkommensabhängige Sitzungsentschädigungen einzuführen. Wenn man wenig verdient und mehr Geld für den Stadtrat bekommt, kann man, wenn man Glück hat, die Lohnarbeitszeit reduzieren.
Idealismus, d. h. politisches Engagement muss man sich auch leisten können. Wenn jemand viel verdient, kann sie sich das auch besser leisten.
Es gibt also schon eine Ungleichbehandlung in der Gesellschaft. Das heisst, Entschädigungen nach dem Einkommen sind keine Ungleichbehandlung der gleichen Arbeit der Stadträtinnen und Stadträte, sondern sie sind im Sinn der „affirmative Action“ zu verstehen. Bei der Bekämpfung von Ungleichheit in der Gesellschaft, muss die benachteiligte Gruppe besonders gefördert werden, Gleichheit bei den Chancen lässt sich also in diesem Fall nur durch Ungleichheit bei der Förderung erreichen.
Der zweite Grund, der für die Einführung von einkommensabhängigen Entschädigungen spricht, ist die Transparenz. Die Stimmbürgerin und der Stimmbürger sollen wissen, was wir arbeiten und wie viel wir dabei verdienen. Das ist in der Schweiz ein Tabu mit vielen schädlichen Auswirkungen. Mit diesem sollten wir brechen.
Zwar kann man seinen Beruf und seine Interessenbindungen auf der Webseite des Stadtrats angeben, aber niemand fragt genauer nach. Ich finde, das Geben dieser Informationen sollte nicht im Ermessen von uns selbst liegen. Denn unsere Interessenbindungen sind politisch relevant! Das bedeutet einen Mehraufwand für alle Beteiligten, aber es bedeutet auch einen Mehrwert für die Demokratie. Ich denke dabei z. B. an politische Beratungsmandate von Personen aus der FDP und der GLP. Die Stimmberechtigten sollen selbst entscheiden, ob sie unsere Interessenbindungen, wenn wir sie denn haben, goutieren oder nicht.
Wenn noch Zeit bleibt, würde ich gern noch auf die Gegenargumente zu meinem Antrag aus der Kommission eingehen:
- Das Vermögen würde ich auch sehr gern einbeziehen, aber wie man bei Ungleichheitsberechnungen sieht, ist das auch bei Vorliegen der Steuererklärung in vielen Fällen noch nicht erhoben. Die Ungleichheit ist beim Vermögen noch ausgeprägter als beim Lohn, aber um die Vermögen zu erheben und dann vielleicht auch zu besteuern, braucht es politischen Willen auf höherer Ebene. Das lässt sich hier im Stadtrat nicht lösen.
- Den Vorschlag, stattdessen ein Stipendiensystem mit einem entsprechendem Gesuchsverfahren für Menschen mit geringem Einkommen einzuführen, scheint eine Lösung zu sein. Aber ich finde den Vorschlag recht herablassend. Menschen, die wenig verdienen, sollen also gemäss diesem Vorschlag ihre Finanzen offenlegen müssen, während es alle anderen nicht müssen. Das ist widersinnig, weil ja gerade Menschen mit geringem Einkommen höchstwahrscheinlich weniger Interessenbindungen haben als alle anderen. Ausserdem gefährdet der Vorschlag die politische Unabhängigkeit, weil ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht.
Es gibt also meines Erachtens gute Gründe für die Annahme meines Antrags auf einkommensabhängige Entschädigung. Es sind die Gleichbehandlung, demokratiepolitische Überlegungen und die Transparenz. Daher möchte ich euch bitten, über euren eigenen Schatten zu springen und meinem Antrag zuzustimmen. Dies sehe ich als Zeichen unseres Idealismus und unseres Engagements.
Der Antrag wurde abgelehnt.