Werte Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Bern,
werte Politikerinnen und Politiker der Stadt Bern.
Seit einigen Jahren ist die Kantonspolizei Bern die einzige Polizeibehörde auf dem Boden der Gemeinde Bern. Die Gemeinde Bern gab damit einen grossen Teil der Kontrolle und Aufsicht über Polizeieinsätze auf Gemeindeboden an den Kanton ab. Das Verhalten der Kantonspolizei war seither besonders in politischem Kontext mehrfach problematisch.
Wir möchten in der Folge einige Beispiele problematischen Verhaltens der Kantonspolizei hervorheben und Parlament und Regierung der Stadt Bern auffordern, diesem Fehlverhalten Konsequenzen folgen zu lassen.
Einsatz von Gummigeschossen
Der Einsatz von Gummigeschossen ist bei der Kantonspolizei Bern Standard. Für Gummigeschosse gilt rechtlich ein Mindestabstand von 20 Metern sowie ein Verbot von
Schüssen auf Kopfhöhe. Die Realität sieht leider anders aus. Nahezu alles auffindbare Bildmaterial – sei es von Amateuraufnahmen, Pressefotograf*innen oder
Dokumentarfilmer*innen – von mit Gummigeschossen schiessenden Kantonspolizist*innen zeigt, dass das Zielen mit dem Gewehr auf Schulterhöhe der Normalfall ist. Auch wenn dabei – wie von der Kantonspolizei behauptet – nicht auf Köpfe gezielt wird, sind Kopf- und Gesichtstreffer gefährliche Realität. Dies wird deutlich, wenn man die Funktionsweise der eingesetzten Waffensysteme betrachtet: So ermittelte das ‹Schweizer Waffen-Magazin› für den neuen Gewehrtyp B&T GL06 eine Flugbahn, die nach 15 Metern Flug 9.2 cm über der Visierlinie liegt1. Somit sind Kopftreffer wahrscheinlich, auch wenn keine Köpfe direkt anvisiert werden. Noch deutlicher wird diese Problematik beim älteren Gewehrtyp MZW04. Das Waffenanalysezentrum ARES berichtet hier von einer Streuung von 4 Metern Radius (8 Meter Durchmesser) auf eine Einsatzdistanz von 20 Metern2. Auch hier sind Kopftreffer wahrscheinlich.
Auch die Mindestdistanz von 20 Metern wird im Alltag oft nicht eingehalten. Dies auch, wenn keine Notwehrsituation vorliegt. Neben zahlreichen Bilddokumenten zeigt dies auch ein Augenzeuginnenbericht vom 1. September 2018. Die betroffene Person stellte sich in ca. drei Metern Distanz in eine Menschenkette, die die Situation deeskalieren wollte. Ein Polizist kündete kurz darauf an, dass man in 10 Sekunden zu schiessen beginnen werde. Die Zeugin zog sich darauf umgehend zurück, wurde aber trotzdem von Gummigeschossen mittelschwer verletzt. Die Tatsache, dass der Einsatz von Gummigeschossen auf wenige Meter angekündigt
und durchgeführt wird, obwohl keine Notwehrsituation besteht, zeigt den rücksichtslosen Umgang der Kantonspolizei mit diesem Einsatzmittel.
Mit diesem Brief veröffentlichen wir eine Filmaufnahme3 vom 01.09.2018, die einen Nahschuss auf Schulterhöhe zeigt, ohne dass eine Notwehrsituation vorliegen würde.
Behinderung von Filmenden
Ein ebenfalls grundlegendes Problem stellt der Umgang der Kantonspolizei mit Personen dar, die Einsätze bildlich festhalten. Regelmässig wird filmenden Personen mit Festnahme gedroht. Vom 1. September 2018 sind Berichte und Aufnahmen bekannt, die physische Angriffe von Kantonspolizisten bezeugen. Mit diesem offenen Brief veröffentlichen wir ausserdem eine zweite Filmaufnahme4 eines Polizisten, der die Frage eines Passanten, ob er den Polizeieinsatz aufnehmen dürfe, mit ‹Nein› beantwortet. Diese Aussage des betreffenden Polizisten ist eine Lüge. Es gibt keine gesetzliche Grundlage, die das audiovisuelle Festhalten von in der Öffentlichkeit stattfindenden Polizeieinsätzen verbietet. Trotzdem behaupten Polizist*innen regelmässig, dass dem so sei. Dies offenbart ein fragwürdiges Rechtsverständnis der Berner Kantonspolizei. Problematisch ist ausserdem, dass die Polizei bei massenhaften Festnahmen oder Personenkontrollen, die in Bern im Rahmen von Demonstrationen traurige Regelmässigkeit sind, oft eine Mauer aus Gitterwagen, Kastenwagen und uniformierten Einsatzkräften um die eingekesselten Demonstrierenden zieht. Filmaufnahmen von ausserhalb des Kreises sind somit unmöglich. Schilderungen von Übergriffen durch die Polizei auf Zivilist*innen stammen grossmehrheitlich aus Situationen, in denen keine Beweismaterialien wie Foto- oder Videoaufnahmen vorliegen.
Problematisches Selbstverständnis von Kantonspolizist*innen
Wer nicht-schweizerisch, links oder sonstwie ‹unnormal› aussieht, weiss: Die Mitarbeiter*innen der Kantonspolizei begegnen längst nicht allen Menschen als ‹Freund*innen und Helfer*innen›. Gerade im Umfeld der Reitschule sowie bei politischen Demonstrationen sind rassistische, beleidigende und machtmissbrauchende Haltungen vonseiten der eingesetzten Polizist*innen prägend. Da solche Vorwürfe nur mit expliziten Ton- oder Bildaufnahmen tatsächlich zu beweisen sind, bleibt dieses Verhalten oft ungesühnt. Oft werden Beschwerden diesbezüglich als „unglaubwürdig“ abgetan – die Glaubwürdikeit eines Polizisten ist in unserer Gesellschaft höher als diejenige eines 17-jährigen
dunkelhäutigen Mädchens.
Als exemplarisches Beispiel veröffentlichen wir mit diesem Brief eine Filmaufnahme, die das Selbstverständnis eines eingesetzten Polizisten deutlich macht. Zu einem Kollegen spricht er davon, nun Absperrband anzubringen und jene, die dieses Absperrband überschreiten, ‹abe z chlepfe›. Der gleiche Polizist verbietet einer anwesenden und nachfragenden Person kurz darauf unerlaubterweise das Filmen.
Das Beispiel zeugt nicht nur von einem fragwürdigen Umgang mit Gummigeschossen, sondern auch von einer nicht vorhandenen Differenzierung. Wer auch immer dieses
Absperrband überschreitet, wird ‹abe gchlepft›, egal ob diese Person eines Verbrechens verdächtigt wird, harmlose Partygängerin ist, oder gar die Situation schlichten will.
Mangelnde Beschwerde- und Aufsichtsmöglichkeiten
Wie oben erläutert, kommt es regelmässig zu Übergriffen gegen filmende Personen sowie ernsthafte Verletzungen durch unerlaubte Verwendung von Gummigeschossen. Eine hiervon betroffene Person hat nur eine einzige Möglichkeit, gegen solche erlittene Ungerechtigkeiten vorzugehen: Eine Anzeige bei der Kantonspolizei selbst. Von solchen Anzeigen gegen Polizeiangehörige wird von Anwält*innen in der Regel abgeraten. Zu hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Gegenanzeige, zu gering die Erfolgsaussichten. Bis heute wurde in der Schweiz kein*e einzige*r Polizist*in für unverhältnismässigen oder unerlaubten Einsatz von Gummigeschossen verurteilt.
Wird eine Gruppe normaler Bürger*innen eines Verbrechens verdächtigt, werden sie einzeln vernommen, sodass keine Absprachen möglich sind. Polizist*innen hingegen, schreiben standardmässig gemeinsam Rapport und arbeiten eng mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Eine Absprache ist also möglich und die untersuchende Instanz ist den Untersuchten vetraut. Eine unabhängige Beschwerdestelle oder Untersuchungsinstanz existiert nicht.
Darüber hinaus liegt – wie eingangs erwähnt – die Aufsicht über die Kantonspolizei bei den kantonalen Behörden. Sie alleine können Untersuchungen einleiten, Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen oder strukturelle Veränderungen erwirken. Die Bevölkerung, die Regierung oder das Parlament der Stadt Bern – in der wegen des Status als Bundesstadt ein grosser Teil der Einsätze der Kantonspolizei stattfindet – haben indes keinerlei demokratische Kontrolle über das Vorgehen der Polizei auf ihrem eigenen Boden. Hier offenbart sich ein grundsätzliches Demokratiedefizit, das auszubügeln längst überfällig gewesen wäre.
Forderungen
Wir stellen daher die folgenden Forderungen in Bezug auf die Kantonspolizei Bern auf, und laden sämtliche politischen Akteure der Stadt Bern ein, sich diesen anzuschliessen.
- Ein Verbot des Einsatzes von Gummigeschossen jeder Art auf dem Gebiet der Gemeinde Bern
- Die Einführung einer unabhängigen Beschwerdestelle („Ombudsstelle“) für die Kantonspolizei Bern
- Die Einführung einer unabhängigen Untersuchungsinstanz für die Kantonspolizei Bern
- Die Wiedereinführung der Stadtpolizei Bern und damit die Rückerlangung der demokratischen Kontrolle über Polizeieinsätze auf Gemeindeboden.
Freundliche Grüße,
Die Mediengruppe der Reitschule
1 https://www.bt-ag.ch/assets/uploads/content/press_2008_swm_40_mm.pdf
2 http://armamentresearch.com/the-swiss-mzw04-multipurpose-launcher/
3 Zu finden hier
4 Zu finden hier