Geschlecht: Ein soziales Konstrukt

Die menschlichen Körper weisen eine ungeheure Variabilität auf. Die Geschlechtsmerkmale bilden ein Spektrum. Die Einteilung in «Mann» und «Frau» stärkt das Patriarchat. Eine Kritik des Geschlechtbegriffs und der Gegenüberstellung von Gender und Geschlecht.

Die bürgerliche Ideologie hämmert uns seit langer Zeit die oberflächliche Vorstellung über Geschlecht ein: Man gehört entweder der Kategorie «Mann» oder «Frau» an, die auf einer starren Reihe von biologischen Merkmalen basieren. Das Ziel dieser Vorstellung ist es, die Unterdrückung der Frauen in unsere Gesellschaft zu zementieren und ideologisch zu verstärken. Neben dieser biologistischen Sicht auf das Geschlecht wurde von fortschrittlicherer Seite eine Theorie entwickelt, die einen Unterschied macht zwischen Gender und Geschlecht. So wird Gender durch die Gesellschaft geschaffen als ein soziales Konstrukt, das durch das Handeln der Einzelnen performativ entsteht und verstärkt wird durch die gesellschaftlichen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auf der anderen Seite steht das Geschlecht, das angeboren ist und auf unveränderlichen biologischen Faktoren basiert. Diese Ansicht beruht auf der Annahme einer essenziellen Männlichkeit und Weiblichkeit. Männer haben Penisse, Frauen haben Vaginas und Brüste und können Kinder gebären, Männer können das nicht. Es wird immerhin zugestanden, dass die Ausdrucksform von Gender (Genderexpression) nicht starr an diese Merkmale gebunden sein muss. Die Vorstellung von Geschlecht als etwas Unterschiedenes von Gender kann in der öffentlichen Debatte zwar noch strittig sein, ist in der akademischen Welt aber Mainstream. 
Auch wenn diese Theorie im Vergleich zu früher einen Schritt nach vorne bedeutete, lässt der Gegensatz Gender-Geschlecht noch viel zu wünschen übrig. In Wirklichkeit sind unsere Körper äusserst komplex und es besteht eine grosse Variabilität von Person zu Person, trotzdem kategorisieren wir unsere Körper streng in zwei Klassen. Die Geschlechtsmerkmale bilden ein Spektrum und die Kategorisierung unserer Körper basiert notwendig auf den Gender-Konzepten. Sowohl Geschlecht wie Gender sind gesellschaftlich konstruiert und stehen miteinander in einer Wechselbeziehung. In letzter Instanz ist der Gegensatz Geschlecht-Gender Teil der patriarchalischen Ideologie und muss ebenfalls aus marxistischer Perspektive bekämpft werden.

Verschiedenste Kombinationen
Zuerst einmal bestehen fünf Kriterien, die BiologInnen beobachten, wenn sie geschlechtliche Merkmale untersuchen: 1. Chromosomen. Beim Menschen gibt es ein Chromosomenpaar, das wichtig ist für das, was man als Geschlechtsmerkmale einschätzt. Männer müssen dabei die Kombination XY haben, Frauen die Kombination XX. Das Problem ist, dass dies nicht die einzig möglichen Varianten sind. Individuen können X (ohne ein zweites Chromosom), XXY, XYY und XXXX aufweisen. Ferner haben auch für diejenigen, die die beiden häufigsten Kombinationen haben, die Chromosomen nicht immer dieselbe Wirkung. Jemand mit der Kombination XY kann beispielsweise «weibliche» Geschlechtsmerkmale ausbilden, wenn der Körper weniger stark auf androgene Hormone reagiert.
2. Keimdrüsen. Keimdrüsen sind Fortpflanzungsorgane. Männer sollen Hoden haben, Frauen haben Eierstöcke. Die Keimdrüsen eines Individuums können jedoch manchmal im Widerspruch stehen mit anderen Geschlechtsmerkmalen. Zum Beispiel ist es möglich, Eierstöcke und einen Penis zu haben, eine Vagina und Hoden oder Eierstöcke und Hoden zugleich. Es ist schwierig, präzis einzuschätzen, wie oft Fälle von «Intersex» vorkommen, weil oftmals sofort operativ Korrekturen vorgenommen werden und eine Hormonbehandlung gestartet wird.
3. Genitalien. Männer müssen Penisse haben, Frauen müssen Vaginas haben. Dabei ist der Übergang von Klitoris bis zum Penis fliessend. Und es kann verschiedene Kombinationen von Genitalien geben.
Abweichungen in den ersten drei Kriterien werden als Abnormalität betrachtet, doch leben weltweit zwischen zehn bis einigen Hundert Millionen Menschen mit einer «irregulären» Kombination dieser drei Kriterien.

Zwischen den Extremen
4. Sekundäre Geschlechtsmerkmale. Männer bekommen während der Pubertät tiefere Stimmen, haben Gesichtsbehaarung, grössere Muskeln etc., während Frauen Brüste und «Kurven» (schmalere Taille, breitere Hüften) etc. entwickeln. Bei diesem Kriterium besteht aber ein gewaltige Anzahl Variationen und Überschneidungen. Unzählige Personen, die dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, haben höhere Stimmen als assignierte Frauen oder sie bekommen Brüste und können sogar Milch absondern. Und unzählige Personen, die als Frauen gelten, entwickeln Gesichtsbehaarung, haben mehr Muskelkraft als assignierte Männer, breitere Schultern etc.
5. Hormone. Jedes Geschlecht hat angeblich bestimmte Hormonspiegel. Männer haben mehr Androgene, Frauen mehr Östrogen. Es besteht jedoch in Wirklichkeit eine grössere Variabilität der Hormonspiegel innerhalb der Geschlechter als zwischen den Geschlechtern.
Wenn wir alle fünf Kriterien in Erwägung ziehen, wird klar, dass eine Mehrheit der Menschheit nicht ordentlich in die Kategorien «Männlich» und «Weiblich» passen. Die grösste Zahl der Menschen fällt irgendwo zwischen die Extreme. Anders gesagt, gibt es ein Spektrum an Geschlechtsmerkmalen, die eine Person vorweisen kann. Und doch werden die Menschen in der Gesellschaft streng in die eine oder andere Kategorie eingeteilt. Weshalb?

Zu vereinfachend
Der Prozess der Geschlechtszuweisung beginnt, bevor wir geboren werden. Die Eltern erwarten, dass das Kind eines der beiden Geschlechter haben wird, dies hat Einfluss darauf, wie sie mit jeder vermeintlichen «Abnormalität» umgehen werden, die ihr Kind bei Geburt oder im späteren Leben vorweist. Die moderne Ultraschalltechnologie ermöglicht den Eltern, die Genitalien des Kindes während der vorgeburtlichen Entwicklung in Erfahrung zu bringen. Dies verstärkt die Vorstellung der Eltern, welches «Geschlecht» ihr Kind haben wird. Und natürlich ist diese Vorstellung eng verknüpft mit dem gesellschaftlichen Konzept von Gender.
Das Beispiel von Menschen, die als «zwischengeschlechtlich» (intersex) gelten, kann anschaulich sein. Angenommen, ein Kind mit Eierstöcken im Innern, aber mit einem Penis aussen wird in einer westlichen Gesellschaft geboren. (Solche Fälle sind nicht besonders ungewöhnlich; etwa zwei Prozent aller Geburten sind intersex, in gewissen Regionen der Welt ist diese Rate sogar noch höher.) Dieser Umstand wird als medizinischer Notfall behandelt, obwohl kaum oder gar keine Gesundheitsrisiken bestehen. Vielmehr bergen die «Behandlungen», um Intersex-Merkmale zu «korrigieren», teilweise selber beträchtliche Risiken, deren Langzeitwirkungen noch kaum untersucht sind. Der Beweggrund hinter der Genitalkorrektur liegt also nicht in der Gesundheit des Kindes, sonder einzig darin, die binäre Geschlechtsidentität durchzusetzen. Jede Abweichung von den zwei Geschlechtskategorien ist ein Notfall, der möglichst rasch behoben werden muss.
Auch unter Individuen, die die häufigsten Kombinationen der Geschlechtschromosomen, die eindeutige Keimdrüsen und Genitalien haben, gibt es eine riesige Variabilität. Ein Kind mit XX-Chromosomen, einer Vagina, Gebärmutter und Eierstöcken kann dennoch starke «männliche» Merkmale entwickeln. Und dennoch wird die Person von der Gesellschaft als das eine oder andere Geschlecht kategorisiert. Der menschliche Körper ist äusserst komplex und die Annahme eines essenziell männlichen oder weiblichen Körpers ist viel zu vereinfachend. Unsere Vorstellungen, was männliche und weibliche Körper sind, werden durch unser gesellschaftliches Konzept von Gender bestimmt.

Transmisogynie und Gender
Ein Vorteil der Theorie des Gegensatzes Geschlecht-Gender ist die Frage von Transmenschen. Die liberale Theorie besagt, dass Transfrauen «männliche Körper» haben, aber vom Gender her Frauen sind, und umgekehrt bei Transmännern. Diese Theorie ist unzureichend. Sie lässt unter anderem Raum für Transmisogynie, also den Hass auf Transfrauen, das ideologische Produkt und die Rechtfertigung der strukturellen Unterdrückung von Transfrauen. Es wird oft behauptet, dass sich Transfrauen als Frauen präsentieren, aber immer noch «männliche Körper» hätten. Aber wie wir gezeigt haben, ist das eine beinahe bedeutungslose Aussage. Es gibt keinen essenziell «männlichen Körper». Es bedeutet bloss, dass die Individuen nach der Geburt der männlichen Kategorie zugeordnet wurden, die auf dem mutmasslichen Potenzial ihrer Anatomie basiert, das maskuline Gender zu performen. Und doch wird dieser «männliche Körper» als Waffe gegen Transfrauen eingesetzt. Es wird argumentiert, dass Transfrauen aufgrund der «männlichen Körper» eine strukturelle Macht über andere Frauen hätten. Dass Transfrauen deshalb Begünstigte des Patriarchats seien, ist lächerlich. Die Realität zeigt das Gegenteil. Transfrau sind doppelt so häufig obdachlos und arbeitslos als der Schnitt und etwa die Hälfte von ihnen haben Suizidversuche hinter sich. Transfrauen während und nach der Transition werden nicht mehr wie Männer behandelt. Viele Transfrauen sind intersex und haben sichtbar verschiedene Geschlechtsmerkmale. Transfrauen, die ein Hormontherapie durchlaufen (die Mehrheit im Westen), entwickeln «weibliche» sekundäre Geschlechtsmerkmale. Und Transfrauen, die vor der Pubertät damit anfangen, werden nie «männliche» sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln. Transfrauen, die als Frauen «wahrgenommen» werden, werden auch entsprechend behandelt. Transfrauen, die nicht als Frauen «durchgehen», werden nicht gleich wie Männer behandelt; sie werden sogar in stärkerem Masse aus der Wirtschaft ausgeschlossen. Auch das Argument, dass Transfrauen als Männer sozialisiert würden und dadurch Vorteile hätten, ist äusserst fragwürdig und bringt Probleme mit sich. Etwa die Auffassung, dass Transfrauen dann erfolgreich als Männer hätten sozialisiert werden müssen.
Die Vorstellung, dass Transfrauen vom Patriarchat profitieren würden, basiert auf der metaphysischen Sichtweise auf Gender, die das Vorhandensein bestimmter Genitalien als Basis für ein «wirkliches» Geschlecht annimmt, das ausserhalb der beobachtbaren gesellschaftlichen Beziehungen und der materiellen Realität liegt. Die Klärung, dass Geschlecht ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept ist, untrennbar verknüpft mit Gender, wäre hingegen ein Schritt vorwärts im Kampf gegen die Unterdrückung von allen Frauen, insbesondere Transfrauen.

von Morton Esters erschienen im vorwärts