Über 5000 Menschen sind 2016 während ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Seit die europäischen Regierungen zusammen mit der Türkei die Routen in der Ägäis quasi geschlossen haben, sind viele Flüchtende auf die gefährlichere Überfahrt von Libyen nach Italien ausgewichen. Zum Vergleich: Die Passage von der türkischen Küste zur griechischen Insel Lesvos dauert je nach Wind und Wetter um die zwei Stunden, jene von Libyen nach Lampedusa mehrere Tage. Als ich Anfang Januar dieses Jahres von dieser hohen Zahl ertrunkener Menschen erfuhr, war ich traurig, aber nicht überrascht.
Im Herbst 2015 war ich drei Monate auf Lesvos. In einem Transitcamp an der Nordküste habe ich mitgeholfen, die Notversorgung für die Menschen, die die Überfahrt überstanden hatten, zu gewährleisten. Viele von ihnen hatten kürzlich Familienangehörige verloren – auf dem Weg nach Europa oder vorher, im Krieg in ihren Ländern. Als ich zum ersten Mal von dem europäischen Deal mit der Türkei hörte, befürchtete ich bereits, dass jetzt zahlreiche Menschen nach Libyen reisen würden, um dort eines der völlig überfüllten Boot zu besteigen.
5000 ertrunkene Menschen also. Das sind 5000 Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Kinder – 5000 Geschichten. In vielen europäischen Medien werden sie als anonyme Masse behandelt – sofern sie denn überhaupt noch Erwähnung finden. Es sind aber 5000 Menschen, die alle irgendwo von irgendwem vermisst und betrauert werden.
Nachdem ich auf Lesvos zum ersten Mal direkt mit dem Tod konfrontiert wurde, hat mir eine erfahrene Helferin geraten: „Judith, focus on the living!“ Ohne ihren hätte ich die drei Monate im Chaos wohl nicht überstanden. Aber ich stumpfte auch ab. Ich habe mich daran gewöhnt, dass täglich Kinder weiss im Gesicht und durchfroren aus Gummibooten geholt werden. Dass Menschen in eisiger Kälte draussen schlafen müssen. Dass wir nicht genug Decken für alle haben.
Zurück in der Schweiz habe ich langsam meine Empörung wieder gefunden. Eine Empörung, die für den Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit essentiell ist. So muss die humanitäre Hilfe Freiwilliger für Menschen auf der Flucht mit einer fundamentalen Kritik am kapitalistischen System einhergehen. Es ist ein System, das die Ungleichheit der Menschen fördert, die Armut überall auf der Welt, die Umweltverschmutzung, den Krieg. Um unseren Wohlstand zu sichern, werden Rüstungsgüter verkauft und korrupte Regierungen finanziell dabei unterstützt, die Festung Europa abzuriegeln. Nun sollen, wie kürzlich auf Malta beschlossen wurde, die Menschen auch in Nordafrika zurückgehalten werden. Dies, obschon bekannt ist, dass zum Beispiel in den libyschen Lagern massivste Menschenrechtsverletzungen Alltag sind.
Dies sind also unsere hochgelobten europäischen Werte. Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen systematisch klassiert, diskriminiert und diffamiert. Rassismus in seiner reinsten Form ist wieder salonfähig – nicht nur in den USA.
Vor kurzem war ich in Biel mit zwei geflüchteten Männern aus dem Mittleren Osten unterwegs. Wir hörten Musik aus ihrem Land. Ob sie ihre Heimat sehr vermissen, habe ich sie gefragt. Sie schauten mich mit traurig leuchtenden Augen an: „Natürlich, was denkst du denn! Die Strassen, der Duft der Gewürze, die Familie.“ Sie sind nicht freiwillig in die Schweiz gekommen – sie hatten keine andere Wahl. Natürlich möchte ich, dass sie hier bleiben können. Aber mein Hauptziel ist, dass sie, dass alle Menschen dort leben können, wo sie möchten – und zwar in Sicherheit. Dafür müssen wir kämpfen!
Judith Schmid Stadträtin PdA POP Biel