«zäme läbe, zäme schtimme»: Demokratie ist nicht teilbar!

Über 85‘000 mündige Personen leben und arbeiten schon seit mehr als einem Jahrzehnt in der Schweiz und über fünf Jahre im Kanton Bern, bezahlen Steuern und bereichern das soziale und kulturelle Leben, ohne dass sie politisch etwas zu melden hätten. Mit einer Volksinitiative soll ein bescheidener Schritt zur Ausweitung von Demokratie und Gemeindeautonomie ermöglicht werden.


Die Sache ist nicht ganz einfach zu erklären und sieht einen Prozess in zwei Akten vor: Mit einer Änderung der Verfassung des Kantons Bern sollen die Gemeinden überhaupt erst die Möglichkeit erhalten, Ausländerinnen und Ausländern, die seit mindestens zehn Jahren in der Schweiz und fünf im Kanton Bern leben, das Stimm- und Wahlrecht zu verleihen. Das will eine kantonale Volksinitiative, über die am 26. September 2010 abgestimmt wird. Eine Komitee aus Gewerkschaften, PdA, SP und Grünen hat die Initiative im August 2008 mit über 15‘000 gültigen Unterschriften eingereicht. Nun gilt es, den Abstimmungskampf auf möglichst breiter Front zu führen: für die politischen Rechte der Immigrantinnen und Immigranten und für die Stärkung der Gemeindeautonomie.

Die Sache hört sich auch nicht ausgesprochen radikal an. Kein Wunder, wurde doch bei der Formulierung der Volksinitiative bewusst auf einen Vorschlag der Berner Kantonsregierung aus dem Jahr 2003 zurückgegriffen. Im Kantonsparlament, dem Grossen Rat, fand ein solches Ansinnen während der vergangenen sieben Jahre jedoch keine Gnade: So wurde denn die Initiative im Januar 2010 von einer knappen bürgerlichen Mehrheit abgelehnt. Vorher durfte noch spekuliert werden: Freisinnige, die noch nicht sämtliche liberalen Prinzipien verschleudert hätten, stünden der Initiative eigentlich positiv gegenüber – allerdings nur hinter vorgehaltener Hand und nicht vor und nicht nach Wahlen.

Seitdem die PdA Bern die Idee einer Volksinitiative am 1. Mai 2005 unter dem Transparent «Politische Rechte für alle, die hier wohnen» in die Diskussion eingebracht hat, sind nicht nur zwei Wahlen für den Grossen Rat über die Bühne gegangen, sondern auch mehrere Vorstösse auf eidgenössischer Ebene, deren offen fremdenfeindlicher Charakter in In- und Ausland von niemandem bestritten wird. Das könnte jetzt konkret und aktuell heissen: Ausschaffungsinitiative und «zäme läbe, zäme schtimme» im gleichen Quartal auf dem Abstimmungskalender – deutlicher könnten die beiden politischen Kulturen nicht akzentuiert werden, die sich in der Schweiz gegenwärtig gegenüberstehen.

Anlässlich der nationalen Demonstration vom 26. Juni 2010 eröffnet die PdA Bern ihre Kampagne für das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer mit einer Kartenaktion. Kulturschaffende stellen sich mit Bild und Wort hinter die Initiative, während den Bürgern zweiter Klasse bildlich über das Maul gefahren wird. Bis zum 26. September soll die Kampagne nicht nur weitergeführt werden. Sie ist vielmehr darauf ausgelegt, sich wellenförmig auszudehnen: unter Socondas und Secondos, unter Kulturschaffenden, unter Bernerinnen und Bernern, denen es ernst ist mit einem Zusammenleben unter Mitredenden und Mitbestimmenden.

Wenn es darum geht, weiter reichende demokratische Rechte für die gesamte Bevölkerung zu erkämpfen, kann die freiheitliche Tradition nicht einfach links liegen gelassen werden. Gerade auch in der Geschichte abseits der Hauptstadt lassen sich genügend Beispiele finden, die aufzeigen, dass den Eingesessenen die Zugewanderten allemal näher standen als die Herrschaften, die das Monopol auf politische und wirtschaftliche Macht eifersüchtig hüteten. Gegen die lauten Demagogen von Blut und Boden gilt es, im ganzen Kanton mit freiem und stolzem Sinn die freiheitliche Tradition im Zusammenleben mit Migrantinnen und Migranten – auch mit politisch Verfolgten – wieder ins Bewusstsein zu heben (s. «Vorwärts» vom 8.6.2007: «Zwei Flüchtlingsgeschichten aus der Zeit um 1850»). Der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen in Stadt und Land ist auch ein Kampf um die Geschichte – von Stadt und Land.

Während die Fremdenängstlichen und -feindlichen dank medialer Dauerbeschallung die ideologische Lufthoheit für sich behaupten, können wir ihnen die konsequente Perspektive von unten entgegensetzen: aus dem Zusammenleben von «HierländerInnen» heraus: «»Qui est ici est d‘ici» (Alain Badiou). Die Kampagne für die Volksinitiative «zäme läbe, zäme schtimme» ist dafür ein wichtiger, wenn auch bescheidener Schritt.

Rolf Zbinden, 17.6.2010