Ich danke euch herzlich für die Einladung ins Oberwallis und möchte diesen Dank verbinden mit der Erinnerung an all jene, die mit ihrer Arbeit es möglich machten, dass die Wege zwischen uns so kurz geworden sind. Und vielleicht sind die Zeiten gar nicht so schlecht, um sich darauf zu besinnen: wer den Boden bereitet für das gesellschaftliche Überleben, wer den wahren Reichtum menschlicher Kultur schafft, wer über den Schlüssel zur gesellschaftlichen Zukunft verfügt. Der Dichter Bertolt Brecht hat die Antwort in seinen «Fragen eines lesenden Arbeiters» gegeben:
«Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das grosse Rom
Ist voller Triumphbögen. Wer errichtete sie? (…)
So viele Berichte.
So viele Fragen.»
Als Kommentar zur Krise: ein Gedicht? Ja. Und es wird nicht das letzte sein. Bin ich ein Missgriff? Sicher bin ich nicht Ökonom, wollte es nie werden und habe so etwas auch nie behauptet. Ebenso sicher aber interessieren mich Worte: wovon sie zeugen und was sie bewirken. Zum Beispiel das Wort «Krise» – nach Duden:
«Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung.»
Ich denke es lohnt sich, wenigstens für einen Augenblick diese Definition ernst zu nehmen und die Folgerungen, die wir zu ziehen hätten – wäre es uns denn ernst mit dem Wort von der «Krise», das den Aufruf zum diesjährigen 1. Mai prägt. Wie sieht es denn eigentlich aus mit dieser «gefährlichen Entwicklung», die ihrem Höhepunkt entgegenrollt?
Sicher sind wir uns darin einig, dass «die gefährliche Entwicklung» nicht darin bestehen kann, dass einige Spitzenverdiener auf ihre horrenden Zusatzverdienste – momentan – verzichten müssen; dass einige Spekulanten von bürgerlichen Gerichten zurückgepfiffen werden; dass der eine oder andere Grossaktionär einige Nullen streichen muss. Diese «Entwicklung» stellt für uns keine Gefahr dar – wenn wir uns durch sie nicht blenden lassen. Ein Spekulant in Depressionen bringt uns der sozialen Gerechtigkeit keinen Schritt näher. Wer das Gegenteil behauptet, betreibt politische Schindluderei und bedient einzig das Ressentiment – das klassische Bewusstsein der Neider und Eifersüchtler.
Und wer von uns könnte behaupten, so genau zu wissen, wohin es denn nach einem «Wendepunkt» gehen könnte. Einfach wieder ein bisschen aufwärts? Aber bitte sehr: für wen? Mal ehrlich: Wer glaubt denn an eine «Entscheidungssituation»? Wer wünscht sie sich? Wenn es ja schliesslich – laut 1. Mai-Motto – darum geht: die Krise zu bekämpfen. Und genau hier lauert die zweite Gefahr einer Blendung: Wenn wir die Krise als Erschütterung lesen, die gleich einer Naturkatastrophe alle gemeinsam überfällt – und folglich auch nur durch die gemeinsamen Anstrengungen aller überwunden werden kann. So geblendet würden wir den Aufruf zum 1. Mai lesen: als Aufruf zur Sozialpartnerschaft. Und an Blendern fehlt es im Moment ja wahrlich nicht, die uns weismachen wollen, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Und wie gehen sie vor: Sie vernichten Arbeitsplätze, sie rüsten auf und schlagen zu, sie überwachen und kontrollieren bis zum Exzess. Wenn einige von uns das bereits kennen sollten, dann sind sie keine Visionäre oder Zeitreisende retour aus der neuen gelobten Weltordnung, sondern echte Realisten, dann sind sie durchaus von dieser alten kapitalistischen Welt. Die Tonarten und Modulationen mögen von Zeit zu Zeit ändern, das Lied bleibt sich das gleiche: der Song von der Ware:
«Was ist eigentlich ein Mensch?
Weiss ich, was ein Mensch ist?
Weiss ich, wer das weiss!
Ich weiss nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.»
Das stammt von Brecht, aus einem Theaterstück von 1929/30 – aus dem Jahr der so genannten Weltwirtschaftskrise also. Wer sprach damals, wer spricht heute von Krise? Und mit welchem Interesse? In wessen Interesse? Brecht wies auf die Regel, die kapitalistische Logik hin, auf den marktförmigen «courrant normal» – nicht auf eine absonderliche Abweichung vom alltäglichen kapitalistischen Geschäft.
Erlaubt sei die Frage: Was zeichnet die kapitalistische Normalität ausserhalb der Krise denn eigentlich aus? Wirtschaftswachstum: zu welchem Preis? Wohlstand: für wen? Soziale Sicherheit: auf Abruf. Demokratie: unter Kontrolle und Überwachung. Frieden: unter Bedingungen der Kapitulation. Freiheit: zum Plündern des Planeten. Sozialpartnerschaft: bis der Profit uns scheidet. Vollbeschäftigung: da geht es flott voran – Richtung Zwangsarbeit. Wohin wir auch schauen, wem wir zuhören: den Jungen ohne Lehrvertrag, den Alten ab vierzig ohne Hoffnung auf Erwerbsarbeit, den Alleinerziehenden mit Hungerlöhnen, den bespitzelten Behinderten, den über den gesellschaftlichen Rand Gekippten, den herum geschobenen Flüchtlingen, den verkauften Kindern – wenn wir ihnen denn zuhören: Wo endet da die Normalität, wo beginnt der Skandal?
«Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der «Ausnahmezustand», in dem wir leben, die Regel ist.»
Das stammt – leider – nicht aus dem Programm einer Partei oder Gewerkschaft, das stammt vom Dichter und Philosophen Walter Benjamin. Und das Zitat geht auch noch weiter. Und auch das ist – leider – in keinem Programm zu lesen. Deshalb das Zitat im Zusammenhang:
«Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der «Ausnahmezustand», in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.»
Der Philosoph ruft uns zur konkreten Verantwortung, das ökonomische Expertentum unserer Tage aber macht uns zur disponiblen Manövriermasse. Abstraktion und Verdinglichung beherrschen jedoch nicht nur den Markt, auf dem die Ware Arbeitskraft gehandelt wird. Abstraktion und Verdinglichung schleichen sich auch in unsere Vorstellungen – selbst dort noch, wo wir uns gegen die Auswirkungen dieses Warendiktats zu wehren versuchen. Bis in die verordnete Sprache hinein werden wir so den Interessen des Kapitals unterworfen. Und wer sich einmal im Krisendiskurs eingerichtet hat, wird sich die entscheidenden Fragen nicht mehr stellen – gar nicht mehr stellen können: In wessen Interesse? Und wer gegen wen? Und mit wem? Mit wem zusammen bekämpfen wir den Angriff des Kapitals: nicht nur auf die Arbeitsplätze, auf die Renten und den Service publique – sondern den Angriff auf die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, der auch ein Angriff ist auf menschlichen Respekt, auf unser aller Würde, auf unsere Träume?
Abstraktion und Verdinglichung stellen uns die Falle: Und dann plappern wir dem Expertentum aus Ökonomie und Politik hintennach. Abstraktion und Verdinglichung haben uns auch dann noch fest im Griff, wenn wir unsere Sache, unsere Interessen, unseren Kampf aus den eigenen Händen geben und Organisationen überlassen. Unsere Verdinglichung und Kalkulierbarkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird erst dann ins Rutschen geraten, wenn wir uns und der Welt zeigen, dass wir gesellschaftliche Veränderungen nicht nur beschwören, sondern konkrete Schritte wagen.
An den Arbeitsplätzen, in den Schulen, in den Wohnquartieren: Wer kennt sich da aus? Arbeitshetze, Lernstress, Konkurrenzdruck, Vernichtung von Arbeitsplätzen, Zerstörung der landwirtschaftlichen Produktion, Ausbeutung des Bedürfnisses, ein Dach über dem Kopf zu haben: Wer hätte da nicht ein Lied zu singen? Werden wir uns unseres Wissens über unser Leben bewusst, nutzen wir dieses Wissen in unseren Kämpfen für ein anderes Leben. Genau das ist das Expertenwissen, das wir in unseren Kämpfen brauchen: gegen den Klassenkampf von oben, gegen unsere Entmündigung im kapitalistischen Krisentheater.
«Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.» Mit diesem Satz hat der italienische Kommunist Antonio Gramsci nach dem Ersten Weltkrieg auf das Wesentliche hingewiesen: Altes stirbt, wenn sich das Kapital verjüngt. Die Geburt des Neuen aber, einer neuen Gesellschaft aus der Krise des Kapitals: ein Traum für Freunde von Abstraktionen und Verdinglichungen.
Nichts gegen Träume. Träumen wir davon, wie die Arbeiterin von der Lonza und der Bauer aus dem Goms sich finden. Nicht in «Bauer sucht Frau», sondern im Kampf gegen die Zumutungen der Kapitalherrschaft. Und träumen wir weiter, dass sich ihnen die Hausangestellte sans papiers aus Saas Fee anschliesst und der Koch aus Zermatt und – wer weiss – der Klosterbruder, dem die Bergpredigt nicht aus dem Kopf will, und dass der Postautochauffeur seinen Schlitten quer stellt, damit die alle sich in Ruhe finden können und noch viele Experten mehr – Expertinnen von Ausbeutung und Unterdrückung. Sind wir denn nun gottverdammte Spinner, wenn wir so träumen? Brechts «Lob der Dialektik» sieht es anders:
«Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben
Werden die Beherrschten sprechen.
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.
Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen.
Und aus niemals wird: heute noch!»
Das wäre jetzt ein schöner Schluss gewesen. Für mich gibt es aber noch einen schöneren. Zwar hat man mich nach 25 Jahren als Lehrer an der Berufsschule in Bern entlassen – Lehrer bin ich aber im Innersten gleichwohl irgendwie geblieben. Lehrer für deutsche Sprache. Und was gibt es da Schöneres, als mit einem Zitat zu schliessen aus dem: Duden:
«Krise: Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung.»
Sorgen wir dafür, dass der Duden Recht bekommt.